Ambivalenz der Begriffe
Sie erhalten an dieser Stelle grundlegende Informationen zur Idee und Umsetzung des Trainingsprogramms. Schülerinnen und Schüler bekommen mit Durchblick die Möglichkeit, sich mit Begriffen und Themen wie Gehorsam, Autorität, Gruppenbildung, Selbstverständnis, Herkunft und individuellen Stärken und Schwächen auseinanderzusetzen. Dabei wird die Ambivalenz dieser Begriffe deutlich. Gehorsamkeit und Hierarchien beispielsweise sind in vielen Situationen sinnvoll und notwendig. Und können doch in ihrer Effizienz wirkungsvoll missbraucht werden. „Durchblick“ versteht sich als Trainingsprogramm, das die Wahrnehmung dieser Ambivalenzen schärft, dabei den Blick auf eigene Stärken und Potenziale der Teilnehmenden richtet und thematische Verbindungen herstellt, die vielleicht ungewohnt scheinen. So wird das Thema Gehorsam in Verbindung zu politisch oder religiös begründetem Extremismus oder sektiererischen Gruppierungen gesetzt, die eventuelle Gemeinsamkeiten aufweisen, die in ihrem völlig unterschiedlichen Erscheinungsbild sonst nicht offensichtlich sind. Dabei werden Fragen erörtert, warum sich Jugendliche rigiden, die persönliche Freiheit einschränkenden, ja nahezu alle Lebensfragen regelnden Gemeinschaften, die eine hochgradig autoritäre Führungsstruktur pflegen, unterordnen und gelegentlich sogar unterordnen wollen.
Sinnproduktion und Autonomie
Das Trainingsprogramm „Durchblick“ begegnet einer Lebenssituation moderner Jugendlicher, in der die Ansprüche und Anforderungen an persönliche Orientierungsfähigkeit hoch sind. Das Jugendalter bringt es mit sich, dass ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Selbstvergewisserung, beständiger Selbsteinschätzung und intensiver Gruppenzugehörigkeit besteht. Sektiererisch-religiöse oder politisch-extremistische Gruppierungen versuchen diesen Bedürfnissen zu entsprechen. Das war sicher seit Anbeginn moderner Zeiten der Fall. Aber Jugendlichen steht heute eine beispiellose Vielzahl von Rollenvorbildern, unterschiedlichen Lebensentwürfen und „Biografieoptionen“ zur Verfügung. Diese „Diversifizierung“ von Lebensmöglichkeiten, die grundsätzlich zu begrüßen ist, erzeugt ein Umfeld vielfältiger Wahlmöglichkeiten. Manche Jugendliche sind damit überfordert. Damit einhergehen kann der Eindruck persönlicher Unzulänglichkeit, Unklarheit oder Verunsicherung. „Durchblick“ möchte Jugendliche als Trainingsprogramm dazu ermutigen, sich kontrovers mit schwierigen und wichtigen Fragestellungen auseinanderzusetzen, dabei zu argumentieren, zu reflektieren und sich eigener Einsichten und des eigenen Verstandes zu vergewissern. Jugendliche erhalten dabei die Chance, sich gegen einschlägige Sinnproduzenten von Psychokulten oder extremistischen Sekten unterschiedlichster Couleur zu immunisieren.
Die Geschichte der anderen
Dominique Schmitz, Jahrgang 1993, war sechs Jahre Salafist, missionierend mit Bart und weißem Gewand. Er hat den Absprung aus der Gruppierung geschafft und tritt mit anderen Aussteigern aus extremistischen Szenen vor Jugendgruppen auf. Heute fasst er sein Lebensgefühl als Siebzehnjähriger in folgende Worte: „Wenn ich mit einem Ex-Nazi oder mit einem Ex-Grauen Wolf auf der Bühne stehe, dann könnten wir rein theoretisch die Geschichte des anderen zu Ende bringen, weil unsere Vita eigentlich identisch ist – und auch die Denkweise und die Argumentation dahinter. Im Grunde genommen ist es immer dasselbe Muster.
… für mich ist das vollkommen austauschbar. Ich würde jetzt nicht unbedingt sagen, dass ich Nazi geworden wäre oder Punk oder so. Aber wenn damals, als ich siebzehn war, ein Moslem, ein Scientologe oder ein Zeuge Jehova oder ein Buddhist bei mir vor dem Fenster gestanden hätte und mir genau die gleiche Art von spirituellen Antworten gegeben hätte, dann wäre ich mit Sicherheit Scientologe, Buddhist oder Zeuge Jehova geworden.“ (Quelle: SWR2 Kontext, 12. April 2016)
Mitwirkung gefragt
Das Trainingsprogramm richtet sich an Jugendliche ab der siebten Klasse. In den einzelnen Modulen werden Methoden der Gruppenarbeit eingesetzt und abwechslungsreiche Lernarrangements ermöglicht. Alle Module (außer Religiöser Fundamentalismus, welches später hinzukam), wurden zunächst an zwei Schulen (einer Werkrealschule und einer Realschule) mit erfahrenen Trainerinnen als Pilot getestet. Die Ergebnisse flossen in eine zweite Testrunde mit drei weiteren Schulen ein. Sie sehen jetzt das Ergebnis der dritten überarbeiteten Version. Damit ist der Feedback-Zyklus jedoch nicht abgeschlossen. Betrachten Sie das Material als „Open Source“, das Sie ergänzen, modifizieren oder erweitern können. Teilen Sie uns Ihre Erfahrungen und Vorschläge mit. Wir freuen uns auf Ihre Email.